Anne – damit wir klug werden

Marita Gramm im März 2015

Der Philosoph Max Dessoir sagte einmal, dass ein Tagebuch die Linie des eigenen Lebens verfolge.

Tagebuchaufzeichnungen sind direkt und unmittelbar. Sie geben fast immer einen lebendigen Eindruck des Erlebten wieder. Kann man einem Menschen näher kommen, als durch das Lesen seiner Tagebuchaufzeichnungen?

Auf einmal sehen wir mit seinen Augen, hören mit seinen Ohren und fühlen mit, welche Emotionen die Stationen seines Lebens hervorrufen.

Tagebücher machen neugierig, man betritt eine Welt, die eigentlich verboten scheint. Ist es nicht zu privat, ein Tagebuch zu lesen? Wie gehe ich mit dem um, was ich erfahre? Ich kann mich dem Menschen, dessen Leben mir im Lesen so vertraut wird, nicht mehr entziehen. Soviel Nähe macht bewusst. Soviel Nähe macht betroffen.

Das Tagebuch der Anne Frank zieht uns in das Leben eines jungen sprühenden Mädchens, dessen Welt sich immer mehr verengt. Im Lesen erlebt man ihr Reifen, ihre Fantasie, ihre Gefühle, ihre Liebe zum Leben und ihre Sehnsucht danach – aber auch ihre Spannungen, ihre Traurigkeit und ihre Ängste. Annes Beschreibungen ihrer Mitmenschen nimmt den Leser mit in die angespannte Atmosphäre des Hinterhauses. In einen Alltag voll ängstlicher Stille, Mangel, Entbehrungen, Einschränkungen und des endlosen Wartens. Aber da ist auch Lachen, Hoffen, Streiten, Lieben und Feiern in dieser winzigen Welt, in der sie über zwei Jahre gelebt hat. Durch den Verrat des Versteckes und die Festnahme reißt der Faden ab. Man kann das Leben und Sterben von Anne Frank nur noch durch Erzählungen von Zeitzeugen verfolgen. Erschütterung empfindet man als Leser der Augenzeugenberichte über die letzten sieben Monate im Leben von Anne Frank – unerträglich wird der Gedanke, dass ihr Schicksal nur eines von Millionen von Menschen ist.

Im März 2015 jährt sich der Todestag von Anne Frank zum 70. Mal. Wann genau sie und ihre Schwester Margot im Konzentrationslager Bergen-Belsen gestorben sind, weiß niemand. In Bergen-Belsen wird man aller Toten gedenken und auch an die Befreiung des Lagers im April 1945. Aber man wird Anne Frank nicht hervorheben. Sie war ein Opfer von Tausenden. Die Gedenkstätte Bergen-Belsen will statt dessen ihren Geburtstag nutzen, um die Jugendarbeit um das Thema zu stärken, damit die Gedenkstätte nicht nur ein Ort des Erinnerns ist, sondern des Lernens – damit wir klug werden.