Brass-Oratorium Anne! Damit wir klug werden – das kurze Leben der Anne Frank
Musiklisches Gedenken an Anne Frank in der Gedenkstätte Bergen-Belsen
Anne und Margot Frank sehen mich an, als ich am Sonntag, den 12.06.2016, das Gebäude der Stiftung Bergen-Belsen betrete. Zwei Schwarz-Weiß-Fotos auf zwei Plakaten nebeneinander, zwei junge Mädchen ihrer Zeit, vielen bekannt, sind sie ein Sinnbild für das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte. Heute soll an Anne Frank erinnert werden – sie wäre heute 87 Jahre alt geworden – mit einem Brass-Oratorium. Oratorien kenne ich, sie werden traditionell in kirchlicher Umgebung aufgeführt, früher verstärkt in der Fastenzeit, wenn keine Opern gespielt wurden – aber was bitte ist ein Brass-Oratorium?
Ich bin gespannt, auf dem Vorplatz der Gedenkstätte habe ich Blasinstrumente gesehen. Draußen, vor der Mauer zur Gedenkstätte hat sich eine große Menge Bläser und Sänger unter dem Schriftzug an der Mauer zum Foto versammelt, alle ganz in schwarz. Das fiel schon vorher auf, ein holländischer Besucher fragt erstaunt: „Muss man Schwarz tragen zum Besuch hier?“
Die Gruppe der Musiker löst sich auf und ich suche mir einen Platz auf den Stühlen und Bänken vor der Bühne. Neugierig schaue ich in das Programm. Gleich auf der ersten Seite der Text eines Aufrufes: „Sie haben sich zu melden … Sie müssen mitbringen … Dieser Brief ist Ihr Fahrschein! Bei Nichteinhaltung Polizeiandrohung und Strafverfolgung!“ Mir sträuben sich die Nackenhaare, was erwartet mich hier heute?
Der Himmel ist grau, wie in Trauer verhangen, strahlender Sonnenschein hätte irgendwie auch nicht gepasst an diesem Ort und zu diesem Thema. Die Blechbläser vom b-team und freunde setzen sich, spielen ein paar Töne, dann wird es still und es folgt eine Begrüßung durch Herrn Dr. Thomas Rahe, den wissenschaftlichen Leiter der Gedenkstätte.
Das Brass-Oratorium beginnt, drei Töne, als würde jemand den Namen Anne Frank singen. Während der Overtüre kommen plötzlich zwei Frauen aus dem Tor zur Gedenkstätte. Sie gehen gemessenen Schrittes zum Lesepult hinter dem Dirigenten Knut Petscheleit. Eine von beiden ist noch sehr jung, etwa im Alter von Anne Frank.
Die Overtüre verklingt und was jetzt passiert, jagt mir eine Gänsehaut über – es soll nicht die letzte heute sein. Zu lautem Marschgetrommel marschieren in Doppelreihe die Sänger aus dem Tor der Gedenkstätte. Mit ernsten Gesichtern, konzentriert und ganz in Schwarz umweht sie der Hauch der Toten, die an diesem Ort ihr Leben lassen mussten. Sie schreiten durch die Reihen auf die Bühne und die Trommel verstummt.
Die Sprecherin Christine Mühler beginnt mit ihrem Vortrag und gleich der erste Satz trifft: es geht um den Beschluß zur Endlösung der Judenfrage! Die 15jährige Kim von Hein liest aus Anne Franks Tagebuch. Aber sie liest nicht nur, sie ist Anne – mal traurig, mal ängstlich, mal mutig oder unglaublich kämpferisch hallt ihre junge Stimme über den Anne-Frank-Platz. Wir Zuhörer begleiten Familie Frank in ihr Versteck in das Hinterhaus.
Emotional ergänzt die Musik die Texte. Manchmal spielen die Bläser mit Dämpfern, was dann wie eine Radioaufnahme aus den dreißiger Jahren klingt. Ich höre, wie sehr Anne sich nach Freiheit und Lachen sehnt, ein richtiger Backfisch zu sein, zu singen und zu tanzen und die ruhige klare Stimme Christine Mühlers ergänzt schreckliche Details des „Draußen“, der Welt außerhalb des Versteckes. Kinderkonzentrationslager, Deportationen, Menschenjagd.
Die Familie Frank feiert Weihnachten, freut sich über Kekse in Vorkriegsqualität und hofft auf Frieden 1944. Über den Platz schallt „Stille Nacht, heilige Nacht …“ Doch das vertraute Weihnachtslied verändert sich, Trommeln mischen sich ein, wie die Drohnung der nahenden Front oder Gewehrfeuer.
Eine Trompete spielt das Deutschlandlied – die nächste Gänsehaut naht. Während aller Musikstücke werden Bilder gezeigt, von der Familie, aus dem Versteck, von der Invasion. Ich bin die nachgeborene Generation, welche Bilder mischen sich dazu, wenn man das alles noch selbst erlebt hat?
Das Tagebuch endet, die Familie wird verraten und verhaftet. Was nun folgt, ist der schicksalschwere Bericht über das schreckliche Ende der Versteckten, von denen alle – bis auf Otto Frank – umkommen. Christine Mühlers Stimme trägt dies alles mit einer eindringlichen Neutralität vor, die jedem sofort klar macht: das alles ist geschehen, es ist unverzeihlich, unauslöschbar, unvergesslich und es darf nie wieder geschehen. Die Sterbedaten der Versteckten und der Helfer werden verlesen, alle erheben sich dazu von ihren Plätzen. Ich hebe den Blick, sehe die Mauer und mir wird bewusst, dass Anne und Margot und all den anderen Elenden von Bergen-Belsen ihr Leben nur ein paar Meter von mir entfernt genommen wurde. Das letzte Lied erklingt, die Klage eines Vaters über sein verlorenes Kind; die letzten drei Töne, als würde jemand Anne Franks Namen singen …
Bläser und Sänger und die beiden Sprecherinnen machen sich auf den Weg zum jüdischen Gedenkstein. Die Zuhörer folgen dem schwarzen Zug, ergriffen, schweigend. Ein Korb voller Steine wird mir entgegen gehalten, auf jedem einzelnen steht „Anne“.
Am Gedenkstein versammeln sich alle Musiker, spielen und singen „Verleih uns Frieden gnädiglich“. Die Spannung löst sich. Ich blicke in nachdenkliche Gesichter, in ernste und in weinende Gesichter. Die Menschen legen die „Anne“-Steine auf den Gedenksteinen ab, die Menge zerstreut sich, leise Gespräche.
Ich verharre einen Moment, nehme das Singen der Vögel wahr, den sanften Wind, der die Heidegräser bewegt und das frische Grün der Birken. Ich weiß, dass ich niemals ermessen kann, wieviel Leid an diesem heute so friedlichen Ort passier ist. Aber heute haben alle Zuhörer allen Opfern hier Tribut gezollt und eine klare Aufgabe gestellt bekommen: niemals vergessen und mithelfen, dass so etwas nie wieder geschieht. Orare heißt beten. Ich habe die Bitte verstanden und nun weiß ich, was ein Brass-Oratorium ist: eine unglaubliche Leistung aller Beteiligten! Ich werde diesen Tag so schnell nicht vergessen.
B.E. Müller, Paderborn, Juni 2016